Interview: The Great Escape

Das BMW Motorrad VISION NEXT 100 symbolisiert das ultimative Fahrerlebnis der Zukunft. Ein Interview mit Edgar Heinrich, Leiter Design BMW Motorrad.

Für das BMW Motorrad VISION NEXT 100 blicken Sie zirka zwei Jahrzehnte in die Zukunft. Was bedeutet dieser Auftrag für einen Designer?

Edgar Heinrich: Normalerweise schauen wir etwa fünf bis zehn Jahre in die Zukunft. Selbst das erscheint ziemlich gewagt – angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich gerade alles verändert. Andererseits ist der Blick in eine ferne Zukunft für uns natürlich auch extrem ungewöhnlich und daher reizvoll und spannend.

In welcher Welt bewegt sich Ihr Motorrad der Zukunft?

Heinrich: Die Welt der Zukunft wird bestimmt von totaler Vernetzung und allgegenwärtiger Digitalisierung. Unser Leben wird nahtlos und überall von digitalen Helfern organisiert. Zudem leben mehr Menschen in urbanen Lebensräumen. Dadurch wird der Kontrast zwischen Mobilität in der Stadt und auf dem Land größer.

Wie sieht diese Mobilität denn konkret aus?

Heinrich: Im Alltag in der Stadt geht es um bequeme und stressfreie Fahrten von A nach B. Ich kann unterwegs arbeiten, entspannen oder kommunizieren. Der Großteil der dafür benötigten Fahrzeuge fährt ohne mein Zutun und voll automatisiert.

Das klingt recht praktisch, aber wenig aufregend. Und welche Rolle spielt dabei das Motorrad?

Heinrich: Es ist eine im Vergleich entspanntere, aber auch wenig emotionale Mobilität. Genau darin sehen wir das größte Potenzial und eine einzigartige Chance für das Motorrad. Schon heute geht es beim Motorradfahren in der westlichen Welt häufig um Auszeiten vom Alltag mit all ihren positiven Emotionen.

Das BMW Motorrad der Zukunft trägt deshalb den Titel „The Great Escape“ – wovor und wohin?

Heinrich: Es geht um das Erlebnis von absoluter Freiheit – „The Great Escape“ vor einer allgegenwärtigen Digitalität einerseits, vor einer beliebigen und automatisierten Mobilität andererseits. Unser Motorrad der Zukunft belebt die emotionalen, analogen und archaischen Elemente. Mobilität gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Damit meine ich allerdings weniger eine selbstfahrende Box mit digitaler Benutzeroberfläche. Sondern das sinnliche Erlebnis: Ich spüre die Fliehkraft und nehme die Natur mit allen Sinnen wahr. Das wird auch in Zukunft cool sein.

Passt so etwas Archaisches in eine rundum digitalisierte und autonom mobilisierte Welt der Zukunft?

Heinrich: Es wird sogar eine riesige Sehnsucht danach geben – gerade in einer voll vernetzten Zukunft. Zu diesen Sehnsüchten rechne ich übrigens auch die Mechanik. Es gehört zu unserem Wesen, zu sehen und zu verstehen, wie etwas funktioniert. In einer Welt voller digitaler Devices wird Mechanik zum Luxus. Man erkennt diese Tendenz schon heute durch den Boom bei Oldtimern oder mechanischen Uhren. Auch ein Motorrad ist für jeden erkennbar mechanisch – man sieht die Räder, drehende Teile und Gelenke. Für den Fahrer ist es mehr Werkzeug als Maschine – je mehr er es benutzt, desto besser beherrscht er es. Und vor allem ist es mehr als ein oberflächliches digitales Gerät, dessen Inneres ich nicht sehe und – selbst wenn ich es sehe – nicht verstehe. Für mich beschäftigen diese digitalen Geräte in erster Linie den Kopf, Motorradfahren ist für das Gefühl.

Dennoch steckt im BMW Motorrad VISION NEXT 100 mehr Digitalität und Vernetzung, als man sieht.

Heinrich: Das ist der Clou: Wir nutzen Digitalität, Vernetzung und aktive Fahrsysteme natürlich auch – nur unauffällig im Hintergrund. Der Fahrer kann sich ganz auf das wirklich Wichtige beim Motorradfahren konzentrieren: das sinnliche Fahrerlebnis durch die intensive Verbindung mit der Maschine. Wir haben deshalb auch einen ziemlich radikalen Schnitt in Bezug auf Anzeigen, Displays oder Schalter gemacht.

Aber wie kommuniziert der Fahrer mit dem Motorrad?

Heinrich: Wir integrieren die Anzeigen in einen Visor – eine das Sichtfeld umschließende Datenbrille. Sie erkennt, wohin der Fahrer blickt und zeigt entsprechende Informationen. Aber nochmals: Solange der Fahrer entspannt im Rahmen seiner Möglichkeiten und ohne Gefahr unterwegs ist, steht das Fahrerlebnis im Vordergrund. Anzeigen erscheinen nur, wenn der Fahrer sie wünscht oder wenn sie erforderlich sind. Man benötigt beispielsweise keine permanente Geschwindigkeitsanzeige – solange der Fahrer keine Limits überschreitet.

Motorradfahren erfordert heute ein gewisses Maß an Können sowie Übung. Gilt das auch in Zukunft?

Heinrich: Auch hier machen wir einen großen Schritt zu mehr Freiheit und Fahrerlebnis. Wir kombinieren künstliche Intelligenz mit mechanischen Systemen für ein nie gekanntes Plus an Sicherheit. Diese aktiven Assistenzsysteme stabilisieren das Motorrad durch einen starken Self-Balancing-Effekt im Stand und während der Fahrt. Die Maschine kann keinesfalls mehr umfallen und sichert den Fahrer in jeder erdenklichen Fahrsituation. Dadurch schützen wir einerseits Einsteiger, erweitern gleichzeitig aber die Fähigkeiten guter Fahrer bis zur Grenze des physikalisch Machbaren. Für sie reagiert das Motorrad noch agiler, erweitert dadurch ihre Grenzen und verstärkt die Fahrerlebnisse positiv. Die Sicherheit hat allerdings nach wie vor höchste Priorität.

Das klingt sehr futuristisch und kaum zu glauben – können Sie noch einmal die wichtigsten Technologien und die genaue Funktion dieses Sicherheitskonzeptes erklären?

Heinrich: Neben dem schon beschriebenen Stabilitätssystem gibt es weitere aktive Systeme für umfassende Fahrsicherheit. In Zukunft verknüpfen wir diese Systeme verstärkt mit Daten aus Netzwerken. Der Ölfleck oder das Laub hinter der nächsten Kurve sind so längst erfasst und an die Datenbrille des Fahrers gemeldet. Die eingeblendete Ideallinie berücksichtigt diese Information ebenso wie die Haftgrenze des Asphalts.

Wie unterscheiden das Motorrad und seine intelligenten Systeme zwischen Anfänger und Fahrkönner?

Heinrich: Vor der ersten Fahrt übermittelt der Fahrer eine Selbsteinschätzung an sein BMW Motorrad VISION NEXT 100. Selbstverständlich überprüft das Motorrad während der Fahrt ständig das tatsächliche Fahrvermögen und passt die Geschwindigkeit oder die zulässige Schräglage entsprechend an. Erst mit zunehmender Routine und Sicherheit gibt das System Geschwindigkeiten oder Schräglagen für den Fahrer frei. Gleichzeitig steigert er nach und nach sein Fahrkönnen. Selbst Profis profitieren so von dem System, das ihre Grenzen ständig erweitert und sie immer wieder Herzklopfmomente erleben lässt. Unser System empfiehlt Schräglagen, die sie selbst so nicht einschätzen könnten.

Trotz seines futuristischen Auftritts erkennt der Betrachter das BMW Motorrad VISION NEXT 100 auf Anhieb als typische BMW. Woran liegt das?

Heinrich: Wir haben das Design extrem reduziert. Mit dem schwarzen Dreiecksrahmen, der weißen Linierung und dem Boxermotor zeigen wir jedoch wichtige BMW Motorrad Designelemente aus der Vergangenheit. Die Form zitiert ganz bewusst das erste BMW Motorrad – die R 32 von 1923. Das Design symbolisiert damit die ewig gültige Emotionalität des Motorradfahrens – in der Vergangenheit und in der Zukunft.

Am BMW Motorrad VISION NEXT 100 ist weiterhin die Silhouette eines Boxermotors zu sehen. Was verbirgt sich dahinter und an welche Form von Antrieb denken Sie für die Zukunft?

Heinrich: Die BMW Ikone Boxer beherbergt hier einen umweltfreundlichen und emissionsfreien Antrieb. Seine Form ist eher Stilelement und historische Reminiszenz. Er verändert übrigens je nach Fahrsituation seine Form. Im Ruhezustand ist er eng anliegend, wenn die Fahrt beginnt, öffnet er sich und nimmt eine aerodynamisch günstige Form an.

Der Rahmen wirkt vom Vorderrad bis zum Hinterrad wie aus einem Guß ohne die bekannten Lager und Gelenke.

Heinrich: Wir sprechen hier von einem Flex­frame, der sich durch seine Biegsamkeit lenken lässt. Die dafür erforderlichen Kräfte variieren je nach Fahrsituation. Beispielsweise für leichte Lenkmanöver im Stand und weniger Flexibilität bei hohen Geschwindigkeiten.

Wie stellen Sie sich persönlich Ihren Alltag mit dem BMW Motorrad VISION NEXT 100 vor?

Heinrich: Wenn ich in Zukunft überhaupt noch regelmäßig ins Büro fahre, dann sicher autonom. Das ist stressfrei, schnell und effizient. An die wenig emotionalen Fahrten werde ich mich am Abend sicher nicht erinnern können. Zu Hause schalte ich die Digitalität bewusst ab und steige auf mein Motorrad. Die Vernetzung ist natürlich weiterhin da, garantiert unmerklich meine Sicherheit und verstärkt das Fahrerlebnis. Doch den ganzen Tag über habe ich fast nur mit dem Kopf gearbeitet, jetzt ist Zeit für Bauchgefühle. Der Mensch braucht diese emotionalen Refugien, und unser Motorrad eignet sich
perfekt dafür.

Vielen Dank für das Interview, Herr Heinrich.

Please follow and like us:

Das könnte Sie auch interessieren