Mobilität 4.0 – Warum die Autohersteller jetzt handeln müssen

In Deutschland besitzt statistisch rund jeder Zweite ein Auto.

Noch vor kurzem dachten viele Experten, dass andere Länder nachziehen würden, sobald ausreichend Wohlstand vorhanden ist. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich einiges geändert. Das Smartphone wurde zum Massenphänomen und machte das Planen, Reservieren, Nutzen und Bezahlen alternativer Mobilität so einfach und komfortabel wie nie.

Das Wachstum der urbanen Zentren verstärkte sich weiter. Heute zeigen Metropolen wie Peking, aber auch kleinere Städte wie Stuttgart, dass die individuelle Mobilität an ihre Grenzen stößt – sowohl beim Verkehrsaufkommen als auch bei der Umweltbelastung. Und mit der sogenannten „Sharing Economy“ erhält der Megatrend zur Dienstleistungsgesellschaft einen weiteren Schub: Das kurzfristige Anmieten, zum Beispiel von Wohnungen oder Autos, wird einfacher und günstiger. Gerade jüngere Städter haben zunehmend das Gefühl, nicht mehr unbedingt ein Auto besitzen zu müssen, wenn sie auch leihweise immer und überall eins nutzen können.

Die neue urbane Mobilität wird von diesen Trends geprägt sein. Für die Automobilhersteller können sie sich zur veritablen Bedrohung ihres Geschäftsmodells entwickeln: Mit Car-Sharing oder Fahrservices sind die Dienstleister in der Lage, zwischen die Fahrzeughersteller und ihre Kunden zu treten. Bisher zeigt sich die neue Mobilität wachstumsstark, allerdings von einer niedrigen Basis aus. Zudem wird Car-Sharing heute überwiegend komplementär genutzt, also zusätzlich zum ebenfalls vorhandenen eigenen Auto. Doch wie wird das in Zukunft aussehen?

Bain & Comapny hat in einer Studie untersucht, wie hoch die Wechselbereitschaft von Kunden in Deutschland als arriviertem Industrieland und in China als aufstrebendem Schwellenland ist. Das Ergebnis: Rund 6 Prozent der relevanten Zielgruppe urbaner Autofahrer in Deutschland und rund 11 Prozent derjenigen in China würden in einem definierten „Basisszenario“ das eigene Auto abschaffen. Dem Basisszenario zugrunde liegen in Deutschland zum Beispiel ein Benzinpreis von 1,75 Euro je Liter, eine jährliche Maut von 50 Euro und eine gute lokale Car-Sharing-Verfügbarkeit. Je teurer der Autobesitz und je attraktiver die Mobilitätsalternativen, desto mehr Wechselbereite gibt es. Im extremsten Fall der getesteten Szenarien würden bis zu 22 Prozent der deutschen Städter ihr Auto aufgeben und sogar bis zu 30 Prozent der urbanen Chinesen.

Die Bain-Studie zeigt, dass die Wechselbereitschaft in Typen aufgeteilt werden kann. So lassen „Statussuchende“ keinerlei Bereitschaft erkennen, vom Fahrzeugbesitz Abstand zu nehmen. In Deutschland gehören dazu 19 Prozent, in China nur 7 Prozent der Autofahrer. Dasselbe gilt für die rund 12 Prozent „Autogegner“, die nur deshalb Auto fahren, weil es für sie nicht anders geht. Sie interessieren sich allerdings auch wenig für neue Mobilität. Offen für Alternativen geben sich hingegen „Funktionsorientierte“ und „Verkehrsmittel-Wechsler“. In beiden Ländern zählen dazu rund 30 Prozent der Autofahrer, die überdurchschnittlich viel unterwegs sind. Einige der identifizierten Typen sind landesspezifisch – etwa die „ökologisch Orientierten“, die 20 Prozent der deutschen Autofahrer ausmachen. Diese Gruppe ist überdurchschnittlich an Mobilitätsalternativen interessiert. Für die Automobilindustrie stehen mit dem Aufkommen der neuen Mobilität im beschriebenen Basisszenario bis zu sechs Prozent der heutigen urbanen Kunden auf dem Spiel. Diese werden zwar auch künftig als Nutzer von Car-Sharing und Fahrservices indirekt für Autoabsatz sorgen. Doch erstens ersetzt ein Car-Sharing-Fahrzeug drei bis fünf Neufahrzeugverkäufe und zweitens können sich Mobilitätsdienstleister zwischen die Hersteller und die Autofahrer drängen, wenn die Autobauer die neuen Mobilitätsdienste nicht selbst abdecken. Dann verlieren die Hersteller ihren direkten Kontakt zum Kunden. Drittens unterscheiden sich Modell und Ausstattung der Sharing- oder Fahrdienst-Fahrzeuge von im Privatbesitz befindlichen Autos. Das heutige Sharing-Fahrzeug ist für die Autobauer
deutlich unattraktiver.

Car-Sharing-entlastet die Parksituation im öffentlichen Raum

Aus diesen Gründen ist es für die Etablierung eines langfristig erfolgreichen Geschäftsmodells für die Fahrzeughersteller essenziell, rechtzeitig Erfahrungen in der neuen Mobilität zu sammeln und entsprechende Geschäftsmodelle zu pilotieren. Viele Autobauer gehen diesen Weg bereits, beispielsweise BMW mit DriveNow und Daimler mit car2go. General Motors beteiligt sich mit 500 Millionen US-Dollar am Fahrvermittlungsportal Lyft. Hier geht es indes nicht um traditionelle Investments mit berechenbarer Rentabilität, wie sie die Automobilindustrie bisher gewohnt ist. Im Vordergrund steht vielmehr, die Erfahrung und das Wissen zu generieren, um den Wandel von morgen mitgestalten zu können.

Das ist vor allem deshalb wichtig, weil der beschriebene Wandel unter bestimmten Voraussetzungen disruptiv für die Autobranche werden könnte – etwa wenn die Kommunen der Megacitys entscheiden, Car-Sharing und Elektromobilität massiv zu fördern, um ihre Verkehrsbelastung und Parkraumnutzung zu reduzieren. Denn Sharing-Fahrzeuge entlasten die Parksituation und helfen im optimalen Fall sogar dabei, öffentlichen Raum zurückzugewinnen, der derzeit für das Parken benötigt wird.

Eine weitere Entwicklung, die das Potenzial hat, die Spielregeln der Automobilindustrie radikal zu verändern, ist das selbstfahrende Auto. Wird diese Innovation mit den Vorteilen der Sharing Economy kombiniert, ergeben sich neuartige „Robo-Taxis“ mit universeller Verfügbarkeit, günstigen Preisen und hoher Nutzungsattraktivität. Da die Fahrzeuge selbstständig zum Nutzer fahren können, ist es möglich, völlig neue Geschäftsmodelle zu etablieren, die individuelle Mobilität „nach Bedarf“ erlauben. Damit könnte die Anzahl der parkenden Autos drastisch reduziert werden. Wenn es dann noch gelingt, die Fahrzeuge in den jeweiligen Einzugszonen kurzfristig, sauber und in der jeweils richtigen Ausstattung zur Verfügung zu stellen, wird eine solche Mobilitätsdienstleistung mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine deutlich größere Anzahl der heutigen Autobesitzer so attraktiv sein, dass sie ihr eigenes Fahrzeug aufgeben.

Sind Autohersteller dann lediglich Zulieferer der „Hardware“ und nicht Betreiber des Mobilitätsdienstes, kommt dies einer Revolution gleich. Auch wenn das autonome Fahren erst in etwa 10 bis 15 Jahren in allen Fahrsituationen möglich sein wird – die Weichen, um von der heutigen Automobilindustrie in die zukünftige Mobilitätsindustrie zu migrieren, müssen bereits heute gestellt werden. In ihrem Zusammenwirken sind Verstädterung, Technologie- sowie Kulturwandel eine enorme Herausforderung für die Autobranche. Fahrzeuge zu bauen und zu verkaufen wird künftig nicht mehr ausreichen. Jetzt ist die Zeit, um die bisherigen Strategien kritisch zu hinterfragen und Alternativen zu finden. Die schon seit vielen Jahren diskutierte Entwicklungsvision vom Autobauer zum
Mobilitätsdienstleister war nie so aktuell wie heute.

Autor:
Dr. Klaus Stricker
Head of Automotive Practice
Bain & Company
www.bain.de

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