Interview mit Volkswagen Design-Chef Klaus Bischoff: „Ein neuer Begriff, an den wir uns gewöhnen müssen, heißt Extraterieur.“

Volkswagen Design-Chef Klaus Bischoff über die neuen Aufgaben für Designer, die Herausforderungen des Mobilitätswandels und warum die C-Säule des Golf einer der wichtigsten Werte des Unternehmens ist.

Was Auto-Designer heute entwerfen, kommt erst Jahre später auf den Markt. Sie müssen also weit nach vorne denken. Herr Bischoff, wie lebt es sich in der Zukunft?

Klaus Bischoff: Das ist gar nicht so schwierig, wie man sich das vielleicht vorstellt. Sobald ich durch die Türen des Designcenters gehe, betrete ich sozusagen die Zukunft. Unsere normale Arbeitsumgebung ist etwa vier Jahre weiter als das heutige Angebot für den Kunden. Ein guter Teil des Designjobs besteht darin, die ständige Veränderung der Gesellschaft und damit das Leben von morgen zu verstehen. Aus diesen Gedanken versuchen wir, die passenden Produkte zu entwickeln. Am Anfang steht immer eine Utopie, die dann durch Zeichnungen und viel Arbeit zur Wirklichkeit wird.

Wie findet der Ideenfindungsprozess konkret statt?

Bischoff: Da ist natürlich viel Teamwork im Spiel. In Dialogen und manchmal auch heftigen Diskussionen wird um Zukunftsszenarien gerungen. Das ist wie ein Ping-Pong-Spiel der Kreativität. Welche Auswirkungen hat es, wenn dieses und jenes passiert? Dann braucht es viel Vorstellungsvermögen, sich in dieses Szenario zu versetzen. Ein gutes Beispiel ist die Welt des autonomen Fahrens, wie wir sie im aktuellen I.D. Vizzion beschreiben. Der Fahrer hat nichts mehr zu tun, also werden Sie kein Lenkrad, keine Pedale und auch keinen Bildschirm finden. Bedienungselemente tauchen erst auf, wenn man sie benötigt. Natürlich ist das ein radikaler Ansatz. Aber man braucht weit entfernte Ziele, um auf kurzen Distanzen leichter seinen Weg zu finden.

Welche Rolle spielt dabei der Chef?

Bischoff: Meine Aufgabe ist es, beim Ping-Pong den Schiedsrichter zu geben, aber auch die großen Richtungsentscheidungen zu treffen.

Auto-Design war über Jahrzehnte die bestimmende Kraft in der Gestaltung unseres Alltagsbildes. Ist diese Rolle verloren gegangen?

Bischoff: Keineswegs. Natürlich hat die digitale Welt enorm an Bedeutung gewonnen. Aber wir sind gerade dabei, den verlorenen Raum zurückzugewinnen. Wir befinden uns ja mitten im Aufbruch in ein neues Zeitalter der Mobilität, und die digitale Ausprägung des Fahrzeuges spielt dabei eine bedeutende Rolle. Man darf das ruhig mit der Erfindung des Smartphones vergleichen.

Elektromobilität und digitale Vernetzung sind eher Technologiethemen. Was hat das mit Design zu tun?

Bischoff: Design hat auch eine Übersetzungsfunktion, sogar viel stärker als das die Technik kann. Auf was ich auch schaue, es ist immer Design. Ich sehe einen Bildschirm, aber dahinter läuft eine unglaublich komplexe Technik, die so abstrakt ist, dass sie die meisten Menschen nicht mehr verstehen. Wir sind gefordert, die neue technische Welt in Einfachheit, Schlichtheit und Schönheit zu übersetzen.

Der Aufgabenbereich des Designs hat sich also enorm verändert?

Bischoff: Deutlicher als in all den Jahrzehnten davor. Wir müssen heute auf viel mehr Ebenen denken. Natürlich bleibt das Exterieur wichtig, darüber hinaus gehört es nun aber zu den Hauptaufgaben, Design erlebbar machen. Mit allen Sinnen. Wie klingt etwas? Wie fühlt sich das Fahrzeug an? Wie redet es mit mir? Unser neuer Job heißt Vereinfachung. Die Technik und die Bedienungsmöglichkeiten sind viel komplexer geworden, das Design aber einfacher und leichter verständlich. Das ist heute die hohe Kunst des Designs, und gerade für Volkswagen spielt dieser Aspekt eine besondere Rolle. Der neue Purismus besteht nicht nur darin, darüber nachzudenken, welche Linie entbehrlich ist. Wir müssen uns auch ständig fragen, welche Handlungen kann ich weglassen, welche Elemente brauche ich nicht.

Auto-Design hat also immer weniger mit Karosseriegestaltung zu tun …

Bischoff: Die Form einer Kante, die Wölbung einer Oberfläche, die gesamte Ästhetik von Exterieur und Interieur bleiben wichtig, es kommen aber viele neue Themen dazu. Ein neuer Begriff, an den wir uns gewöhnen müssen, heißt Extraterieur …

… wie bitte?

Bischoff: Darunter verstehen wir die Art, wie Fahrzeuge in Zukunft mit Menschen kommunizieren werden. Autonome Autos müssen mit Fußgängern und anderen Verkehrsteilnehmern interagieren. Es gilt also, einen sympathischen und unmissverständlichen Dialog zwischen Maschine und Umwelt zu erarbeiten. Ein Beispiel: Wenn ein Auto dem Fußgänger den Vorrang gibt, projeziert es mittels LED-Licht einen Zebrastreifen auf die Strasse. Hier muss man sich noch auf eine gemeinsamen Sprache einigen, aber im Design dieser Elemente werden sich die Hersteller unterscheiden. Und schon alleine die Tatsache, dass man die Technologie beherrscht, wird herausragend sein.

Die Akzeptanz des Autos im städtischen Bereich ist im Sinken. Kann man gesellschaftliche Veränderungen dieser Art ins Design integrieren?

Bischoff: Es gehört heute zu den Hauptaufgaben des Designs für solche Fragen schlüssige Antworten zu finden. Es gibt nach wie vor ein starkes Bedürfnis nach individueller Mobilität. Wir müssen also Lösungen finden, um die Akzeptanz wieder zu erhöhen. Dass Volkswagen mit seiner Erscheinung zurückfindet zu Schlichtheit und Ruhe hat viel damit zu tun. Mit unserem Credo „Form follows freedom“ haben wir uns zum Ziel gesetzt, aus den Freiheiten, die sich durch Elektromobilität, Connectivity und Autonomes Fahren ergeben, neuartige Fahrzeugkonzepte zu entwickeln. In der Vergangenheit waren Designer Schneider, deren Aufgabe es war, rund um vorhandene Technik schöne Kleider anzufertigen. Unser Arbeitsfeld wird sich jetzt aber massiv in Richtung Konzeption ändern. Wir werden auch neuartige Mobilitätslösungen vordenken und an deren Umsetzung stärker als bisher beteiligt sein.

Welche Rolle spielt bei diesem Wandel die I.D.-Family?

Bischoff: Die I.D. Family ist nicht weniger als der Ausdruck des Aufbruchs von Volkswagen in eine neue Ära.Was jetzt nicht bedeuten soll, dass wir unsere bisherigen Werte über Bord werfen. Das Wertgerüst wird erhalten bleiben. Volkswagen hat mit dem Käfer Mobilität für breite Bevölkerungsschichten ermöglicht, der Golf hat darauf die Werte Funktionalität und Sicherheit gesetzt, was zu einer Konzeptüberlegenheit geführt hat. Die I.D.-Family soll nun zur dritten Stufe der Erfindung von Volkswagen werden. Wieder wird es einen Paradigmenwechsel im Bereich der Technologie geben, es bleibt aber beim Anspruch der Marke, diese Technologie für alle erschwinglich und nutzbar zu machen. Wir wollen für E-Mobilität eine möglichst breite Akzeptanz schaffen – und das funktioniert nur mit einer kompletten Produktfamilie.

Benötigt E-Mobilität ein differenziertes Design?

Bischoff: Die Menschen wollen für diese neue Form der Mobilität auch ein neues Gewand haben. Deshalb wäre es in der Signalwirkung falsch, E-Mobilität in gewohnten Formen zu belassen. Die Nachhaltigkeit, die Qualität, die technische Raffinesse und das Außergewöhnliche am Produkt muss vermittelt werden. Die kompaktere Technik gestattet neue Freiheiten in der Gestaltung, die wir natürlich nutzen werden.

Showcars sind immer spannend anzusehen, aber das fertige Produkt im Verkaufsraum sieht dann oft ganz anders aus …

Bischoff: Sie werden staunen, wie nah das erste Serienmodell aus der I.D.-Family am Showcar dran sein wird. Wir treten da in einer völlig neuen Sprache an den Kunden heran. Und zwar nicht nur in der Optik: Nach dem „Whow“-Effekt für das Design wird noch der Aha-Effekt zur Einfachheit der Bedienung kommen, obwohl viel mehr Möglichkeiten geboten werden.

Warum ist Elektro-Design nicht noch radikaler? Die kompakte Technik ließe ja deutlich futuristischere Formen zu …

Bischoff: Das hat viel mit der heutigen Gesetzgebung zu tun. Solange nicht alle Autos autonom unterwegs sind, muss das Unfallrisiko einkalkuliert werden. Es sind also beispielsweise weiterhin Airbags und Knautschzonen vorzusehen.

Wird das Design der I.D.-Family auch Einfluss auf künftige Golf-Generationen haben?

Bischoff: Die I.D.-Family besitzt eine ganz eigenständige Identität. Das gemeinsame Gesicht wird die neue Marke I.D. definieren. Aber natürlich müssen wir den gesamthaften Aufbruch von Volkswagen auch im Design zum Ausdruck bringen. Unser Vorteil dabei ist, dass wir auf eine Familie von geradezu ikonischen Modellen bauen können. Polo, Golf, Passat, Tiguan und zuletzt der T-Roc sind allesamt starke Produktpersönlichkeiten, die stark mit Volkswagen in Verbindung gebracht werden. Die gestalterischen Gedanken hinter der I.D.-Family werden die „Icon-Family“ stark beeinflussen, die beiden Familien dürfen aber niemals gleich aussehen.

E-Mobilität, Vereinfachung, Konzeptdenken – welchen Veränderungen zeichnen sich sonst noch für die Arbeit eines Designers ab?

Bischoff: Das Interieur gewinnt stark an Bedeutung. Das Auto bietet eine Kapsel der Privatheit, und Privatheit ist heute ein sehr wertvolles Gut. Der Innenraum wird immer mehr zum Wohnraum. Der Anspruch an die Formgebung und Materialien wird steigen. Hier sehe ich auch die große Chance des eigenen Fahrzeugs gegenüber Carsharing-Konzepten. Der Mensch möchte seine Zeit lieber im eigenen Wohnzimmer verbringen, als in öffentlichen Räumen.

Wie lebt man als Designer mit der Tatsache, dass Schönheit ein höchst subjektiver Begriff ist und damit der eigene Job niemals eine exakte Wissenschaft sein kann?

Bischoff: Stellen Sie sich vor, alle Menschen hätten den gleichen Geschmack. Alles hätte eine ähnliche Ästhetik. Das wäre furchtbar! Erst die unterschiedlichen Geschmäcker und die kulturelle Vielfalt machen den Menschen zu dem, was er ist. Man kann das auch in der Geschichte des Automobils verfolgen: Nach den ersten Anfängen explodierte in den zwanziger und dreißiger Jahren die Formenvielfalt, bis der Krieg alles wieder egalisierte. Danach kam es zu einer weiteren Hochblüte. Ich bin überzeugt, dass durch den gerade stattfindenden Aufbruch der Mobilität auch ein neues Zeitalter der formalen Güte eingeläutet wird.

Wie definieren Sie persönlich Schönheit?

Bischoff: (lacht) Das ist eine sehr gute Frage! (Pause) Im Klang. Jeder Mensch, jeder Entwurf, jedes Produkt – egal, ob Auto, Maus, Möbel oder Boot – muss für mich einen Klang haben. Entweder wirkt etwas auf Anhieb perfekt, oder es gibt eine Dissonanz. Wenn es klingt und rund ist, dann ist es schön. Die Schlichtheit und die Perfektion von Proportionen hat für mich Klang, und der hält dann auch. Aufgesetzte, unnötige Elemente sind für mich Dissonanzen, die weggefiltert werden müssen, um zum Kern der Schönheit vorzudringen.

Entsteht so langlebiges Design?

Bischoff: Ich glaube schon. Es hat aber auch viel mit einer bestimmten Geisteshaltung zu tun. Mit dem Respekt vor dem spirituellen Vermögen einer Marke. Eine ikonische Formensprache hinzukriegen, ist harte Arbeit. Wenn man es geschafft hat, muss man sehr vorsichtig mit diesem Schatz umgehen. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Mut zur Erneuerung und dem Bewahren erfolgreicher Elemente. Bei einem neuen Golf stellen sich immer die gleichen Fragen: Was darf bleiben? Was muss weg? Ohne die ikonische C-Säule geht ein Golf nicht. Es gilt: Behutsam, aber trotzdem mutig sein. Verantwortungsvoll, aber mit Stil. Bloss keine Karikaturen. Am Ende muss ein Golf ein Golf werden und nicht etwas anderes.

Und wenn ein neues Modell etabliert werden soll, wie aktuell der T-Cross …

Bischoff: Bei neuen Modellen legen wir großes Augenmerk darauf, ihnen soviel Strahlkraft mitzugeben, dass sie eigenständig neben den anderen starken Produktidentitäten der Marke bestehen können.

Wie schafft man es, Markenwerte auch im Design auszudrücken, zum Beispiel Qualität?

Bischoff: Qualität hat immer etwas mit Präzision zu tun. Die Flächen müssen extrem schön sein, die Proportionen stimmig. Das fängt bei der architektonischen Arbeit des Designers an und endet bei der Bedienbarkeit eines Touchscreen-Displays. Wie fühlt sich das an? Wie fein ist etwas gesteuert?

Die I.D.-Family vermittelt sehr stark Begriffe wie Nachhaltigkeit, Sauberkeit und Effizienz. Welche Stilmittel wurden hier eingesetzt?

Bischoff: Vor allem Schlichtheit bis hin zum Purismus. Letztlich kehren wir damit zu den Anfängen der Marke zurück. Die Rundscheinwerfer gaben den Käfer Augen und lösten Sympathien aus. Kein Kühlergrill, weil ja der Motor hinten lag. Jetzt brauchen wir ebenfalls keinen Kühler, also war für mich völlig klar, dass wir wieder zu den Ursprüngen der sympathischen Anmutung zurückkehren. Auch die Formen der Natur gaben wertvolle Hinweise – etwa die ruhige, gelassene Form einer Sanddüne.

Wie sehr lastet auf einem Kreativen der Druck, stark für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens mitverantwortlich zu sein?

Bischoff: Attraktivität beeinflusst intuitiv die Kaufentscheidung, nicht nur die Produkteigenschaften. Ich blende das nicht aus, aber es belastet mich nicht. Wenn ich bei jedem Strich die wirtschaftliche Bedeutung im Hinterkopf hätte, würde mir wohl ständig der Stift zittern. Vielleicht fällt es mir leichter, weil ich damit aufgewachsen bin. Ich habe mein gesamtes berufliches Leben bei VW verbracht, vom Praktikanten bis nun schon seit zehn Jahren als Design-Chef. Die Verantwortung ist ein Teil von mir geworden, genauso, wie man mit der Zeit eine Sicherheit in der eigenen gestalterischen Handschrift entwickelt, die für die Kontinuität der Marke wichtig ist.

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